Im Schwarm

Respekt heißt wörtlich Zurückblicken. Er ist eine Rücksicht. Im respektvollen Umgang mit anderen hält man sich zurück mit neugierigem Hinsehen. Der Respekt setzt einen distanzierten Blick, ein Pathos der Distanz voraus. Heute weicht er einer distanzlosen Schau, die charakteristisch ist für das Spektakel. Das lateinische Verb spectare, worauf Spektakel zurückgeht, ist ein voyeuristisches Hinsehen, dem die distanzierte Rücksicht, der Respekt (respectare) fehlt. Die Distanz unterscheidet das respectare vom spectare. Eine Gesellschaft ohne Respekt, ohne Pathos der Distanz führt in die Skandalgesellschaft.

Der Respekt bildet den Grundstein für Öffentlichkeit. Wo er schwindet, verfällt sie. Der Verfall der Öffentlichkeit und die wachsende Respektlosigkeit bedingen einander. Die Öffentlichkeit setzt unter anderem ein respektgeleitetes Wegsehen vom Privaten voraus. Die Distanznahme ist konstitutiv für den öffentlichen Raum. Heute herrscht dagegen eine totale Distanzlosigkeit, in der die Intimität öffentlich ausgestellt wird und das Private öffentlich wird. Ohne Ab-Stand ist auch kein An-Stand möglich. Auch der Ver-Stand setzt einen distanzierten Blick voraus. Die digitale Kommunikation baut allgemein Distanzen ab. Der Abbau räumlicher Distanzen geht mit der Erosion mentaler Distanzen einher. Die Medialität des Digitalen ist dem Respekt abträglich. Es ist gerade die Technik der Isolierung und Abtrennung wie beim Adyton, die Ehrfurcht und Bewunderung generiert.

Die fehlende Distanz führt dazu, dass sich das Öffentliche und das Private vermischen. Die digitale Kommunikation fördert diese pornografische Ausstellung der Intimität und Privatsphäre. Auch die sozialen Netzwerke erweisen sich als Ausstellungsräume des Privaten. Das digitale Medium als solches privatisiert die Kommunikation, indem es die Produktion von Information vom Öffentlichen ins Private verlagert. Roland Barthes definiert die Privatsphäre als »jene Sphäre von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin«. So gesehen hätten wir heute gar keine Privatsphäre mehr, denn es gibt nun keine Sphäre, wo ich kein Bild wäre, wo es keine Kamera gäbe. Das Google Glass verwandelt das menschliche Auge selbst in eine Kamera. Das Auge selbst macht Bilder. So ist keine Privatsphäre mehr möglich. Der herrschende ikonisch-pornografische Zwang schafft sie komplett ab.

Der Respekt ist an den Namen gebunden. Anonymität und Respekt schließen einander aus. Die anonyme Kommunikation, die durch das digitale Medium gefördert wird, baut den Respekt massiv ab. Sie ist mitverantwortlich für die sich ausbreitende Kultur der Indiskretion und Respektlosigkeit. Auch der Shitstorm ist anonym. Darin besteht seine Gewalt. Name und Respekt sind aneinander gekoppelt. Der Name ist die Basis der Anerkennung, die immer namentlich erfolgt. An die Namentlichkeit sind auch solche Praktiken wie Verantwortung, Vertrauen oder Versprechen gebunden. Das Vertrauen lässt sich als ein Glaube an den Namen definieren. Verantwortung und Versprechen sind auch ein namentlicher Akt. Das digitale Medium, das die Botschaft vom Boten, die Nachricht vom Sender trennt, vernichtet den Namen. (…)

Der Shitstorm verweist auf machtökonomische Verschiebungen in der politischen Kommunikation. Er schwillt in dem Raum an, der schwach mit Macht und Autorität besetzt ist. Gerade in flachen Hierarchien bewirft man sich mit Shitstorm. Die Macht als Kommunikationsmedium sorgt dafür, dass die Kommunikation in einer Richtung zügig fließt. Die Handlungsselektion des Machthabenden wird von dem Machtunterworfenen gleichsam geräuschlos befolgt. Das Geräusch oder der Lärm ist ein akustischer Hinweis auf beginnenden Zerfall der Macht. Auch der Shitstorm ist ein kommunikativer Lärm. Das Charisma als auratischer Ausdruck der Macht wäre das beste Schutzschild gegen Shitstorms. Es lässt sie gar nicht erst anschwellen. (…)

Angesichts der Shitstorms wird man auch die Souveränität neu definieren müssen. Souverän ist, Carl Schmitt zufolge, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Man kann diesen Satz der Souveränität ins Akustische übersetzen. Souverän ist, wer eine absolute Stille zu erzeugen, jeden Lärm zu beseitigen, mit einem Schlag alle zum Schweigen zu bringen vermag. Schmitt konnte keine Erfahrung mit der digitalen Vernetzung machen. Sie hätte ihn bestimmt in eine totale Krise gestürzt.

Es ist bekannt, dass Schmitt zeitlebens Angst vor Wellen hatte. Shitstorms sind auch eine Art Wellen, die jeder Kontrolle entgleiten. Aus Angst vor Wellen soll der alte Schmitt auch Radio und Fernseher aus seinem Haus entfernt haben. Er sah sich sogar dazu veranlasst, angesichts der elektromagnetischen Wellen seinen berühmten Satz der Souveränität umzuschreiben: »Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: »Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.« Nach der digitalen Revolution werden wir Schmitts Satz der Souveränität nochmals umschreiben müssen: Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.

Die Empörungswellen sind darin sehr effizient, Aufmerksamkeit zu mobilisieren und zu bündeln. Aufgrund ihrer Fluidität und Volatilität sind sie aber nicht dazu geeignet, den öffentlichen Diskurs, den öffentlichen Raum zu gestalten. Dazu sind sie zu unkontrollierbar, unberechenbar, unbeständig, ephemer und amorph. Sie schwellen plötzlich an und zerstreuen sich ebenso schnell. Darin ähneln sie den Smart Mobs. Ihnen fehlen die Stabilität, die Konstanz und die Kontinuität, die unverzichtbar wären für den öffentlichen Diskurs. So lassen sie sich nicht in einen stabilen Diskurszusammenhang integrieren. Die Empörungswellen entstehen oft angesichts jener Ereignisse, die eine sehr geringe gesellschaftliche oder politische Relevanz besitzen.

Die Empörungsgesellschaft ist eine Skandalgesellschaft. Sie ist ohne Contenance, ohne Haltung. Die Aufsässigkeit, die Hysterie und die Widerspenstigkeit, die charakteristisch sind für die Empörungswellen, lassen keine diskrete, sachliche Kommunikation, keinen Dialog, keinen Diskurs zu. Die Haltung ist aber konstitutiv für die Öffentlichkeit. Die Distanz ist aber notwendig für die Bildung von Öffentlichkeit. Die Empörungswellen weisen außerdem eine geringe Identifikation mit der Gemeinschaft auf. So bilden sie kein stabiles Wir, das eine gesamtgesellschaftliche Sorgestruktur aufwiese. Auch die Sorge der sogenannten Wutbürger ist keine gesamtgesellschaftliche, sondern weitgehend eine Sorge um sich. Daher zerstreut sie sich schnell wieder.

Das erste Wort der Ilias heißt menin, nämlich der Zorn. »Singe, Göttin, den Zorn des Peleussohnes Achilleus« , so beginnt die erste Narration der abendländischen Kultur. Der Zorn ist hier singbar, weil er das Narrativ der llias trägt, strukturiert, beseelt, belebt und rhythmisiert. Er ist das heroische Handlungsmedium schlechthin. Die llias ist ein Gesang des Zorns. Dieser Zorn ist narrativ, episch, weil er bestimmte Handlungen hervorbringt. Darin unterscheidet sich der Zorn grundsätzlich vom Ärger als Affekt der Empörungswellen. Die digitale Empörung ist nicht singbar. Sie ist weder zur Handlung noch zur Narration fähig. Sie ist vielmehr ein affektiver Zustand, der keine handlungsmächtige Kraft entfaltet. Die allgemeine Zerstreuung, die die Gesellschaft von heute kennzeichnet, lässt die epische Energie des Zorns nicht aufkommen. Die Wut im emphatischen Sinne ist mehr als ein affektiver Zustand. Sie ist ein Vermögen, einen bestehenden Zustand zu unterbrechen und einen neuen Zustand beginnen zu lassen. So stellt sie die Zukunft her. Die heutige Empörungsmasse ist äußerst flüchtig und zerstreut. Ihr fehlt jede Masse, jede Gravitation, die notwendig ist für Handlungen. Sie generiert keine Zukunft.

In Psychologie der Massen (1895) definiert der Massenpsychologe Gustave Le Bon die Moderne als das »Zeitalter der Massen«. Es bilde einen jener kritischen Zeitpunkte, in denen das menschliche Denken im Begriff sei, sich zu wandeln. Die Gegenwart sei eine »Periode des Überganges und der Anarchie«. Die künftige Gesellschaft werde bei ihrer Organisation mit einer neuen Macht, nämlich mit der Macht der Massen zu rechnen haben. So stellt er lakonisch fest: »Das Zeitalter, in das wir eintreten, wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.«

Le Bon sieht die tradierte Herrschaftsordnung zerfallen. Nun habe die »Stimme des Volkes« das Übergewicht erlangt. Die Massen gründeten »Syndikate, denen sich alle Machthaber unterwerfen, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschaftsgesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit und des Lohnes zu regeln suchen«. Die Repräsentanten im Parlament seien nur ihre Handlanger. Le Bon erscheint die Masse als ein Phänomen des neuen Herrschaftsverhältnisses. Das »göttliche Recht der Massen« werde das der Könige ersetzen. Für Le Bon führt der Aufstand der Massen sowohl zur Krise der Souveränität als auch zum Verfall der Kultur. Die Massen seien, so Le Bon, »Zerstörerinnen der Kultur«. Eine Kultur beruhe auf »Bedingungen, für welche die sich selbst überlassenen Massen völlig unzugänglich« seien. Offenbar befinden wir uns heute wieder in einer Krise, in einem kritischen Übergang, für den eine andere Umwälzung, nämlich die digitale Revolution, verantwortlich zu sein scheint. Erneut bedrängt eine Formation der Vielen das vorhandene Macht- und Herrschaftsverhältnis.
Die neue Menge heißt der digitale Schwarm. Sie weist Eigenschaften auf, die sie von der klassischen Formation der Vielen, nämlich von der Masse, radikal unterscheidet.

Der digitale Schwarm ist schon deshalb keine Masse, weil ihm keine Seele, kein Geist innewohnt. Die Seele ist versammelnd und vereinigend. Der digitale Schwarm besteht aus vereinzelten Individuen. Die Masse ist völlig anders strukturiert. Sie offenbart Eigenschaften, die auf die Einzelnen nicht zurückzuführen sind. Die Einzelnen verschmelzen zu einer neuen Einheit, in der sie kein eigenes Profil mehr haben. Eine zufällige Ansammlung von Menschen bildet noch keine Masse. Erst eine Seele oder ein Geist verschweißt sie zu einer in sich geschlossenen, homogenen Masse. Dem digitalen Schwärm fehlt die Massenseele oder der Massengeist ganz. Die Individuen, die sich zu einem Schwarm zusammenfügen, entwickeln kein Wir. Ihn zeichnet kein Einklang aus, der die Menge zu einer Handlungsmasse zusammenschweißt. Der digitale Schwärm ist im Gegensatz zur Masse nicht in sich kohärent. Er äußert sich nicht als eine Stimme. Auch dem Shitstorm fehlt die eine Stimme. Daher wird er als Lärm wahrgenommen.

Für McLuhan ist der homo electronicus ein Massenmensch: »Der Massenmensch ist der elektronische Bewohner des Erdballs und gleichzeitig mit allen anderen Menschen verbunden, als wäre er ein Zuschauer in einem globalen Sportstadion. So wie der Zuschauer im Sportstadion ein Niemand ist, so ist der elektronische Bürger ein Mensch, dessen private Identität durch übermäßige Beanspruchung psychisch ausgelöscht worden ist.« Der homo digitalis ist alles andere als »Niemand«. Er behält seine private Identität, selbst wenn er als Teil des Schwarms auftritt. Er äußert sich zwar anonym, aber in der Regel hat er ein Profil und arbeitet unaufhörlich an seiner Optimierung. Statt »Niemand« zu sein, ist er penetrant Jemand, der sich ausstellt und um Aufmerksamkeit buhlt. Der massenmediale Niemand dagegen beansprucht für sich selbst keine Aufmerksamkeit. Seine private Identität ist ausgelöscht. Er geht in der Masse auf. Darin besteht auch sein Glück. Er kann ja nicht anonym sein, weil er ein Niemand ist. Der homo digitalis dagegen tritt zwar oft anonym auf, aber er ist kein Niemand, sonder ein Jemand, nämlich ein anonymer Jemand.

Die Welt des homo digitalis weist zudem eine ganz andere Topologie auf. Ihr sind Räumlichkeiten wie Sportstadien oder Amphitheater, das heißt, Orte der Massenversammlung fremd. Sie gehören zur Topologie der Massen. Die digitalen Bewohner des Netzes versammeln sich nicht. Ihnen fehlt die Innerlichkeit der Versammlung, die ein Wir hervorbringen würde. Sie bilden eine besondere Ansammlung ohne Versammlung, eine Menge ohne Innerlichkeit, ohne Seele oder Geist. Sie sind vor allem für sich isolierte, vereinzelte Hikikomori, die alleine vor dem Display sitzen. Elektronische Medien wie das Radio versammeln Menschen, während die digitalen Medien sie vereinzeln.

Die digitalen Individuen formieren sich gelegentlich zu Ansammlungen wie etwa zu Smart Mobs. Ihre kollektiven Bewegungsmuster sind aber wie bei den von Tieren gebildeten Schwärmen sehr flüchtig und instabil. Die Volatilität zeichnet sie aus. Außerdem wirken sie oft karnevalesk, spielerisch und unverbindlich. Darin unterscheidet sich der digitale Schwärm von der klassischen Masse, die wie etwa die Arbeitermasse nicht volatil, sondern voluntativ ist und keine flüchtigen Muster, sondern feste Formationen bildet. Mit einer Seele, durch eine Ideologie vereint, marschiert sie in einer Richtung. Aufgrund voluntativer Entschlossenheit und Festigkeit ist sie auch fähig zum Wir, zur gemeinsamen Handlung, die das bestehende Herrschaftsverhältnis frontal anzugreifen vermag. Erst die zu einer gemeinsamen Handlung entschlossene Masse generiert die Macht. Masse ist Macht. Den digitalen Schwärmen fehlt diese Entschlossenheit. Sie marschieren nicht. Sie lösen sich ebenso schnell auf wie sie entstanden sind. Aufgrund dieser Flüchtigkeit entwickeln sie keine politischen Energien. Shitstorms sind ebenfalls nicht imstande, das herrschende Machtverhältnis infrage zu stellen. Sie stürzen sich nur auf einzelne Personen, indem sie sie bloßstellen oder skandalisieren. Michael Hardt und Antonio Negri zufolge entwickelt die Globalisierung zwei entgegengesetzte Kräfte. Zum einen errichtet sie eine dezentrierte, deterritorialisierte kapitalistische Herrschaftsordnung, nämlich das »Empire«. Zum anderen bringt sie die sogenannte »Multitude« hervor, eine Zusammensetzung aus Singularitäten, die über das Netzwerk miteinander kommunizieren und gemeinsam handeln. Sie opponiert innerhalb des Empire gegen das Empire.

Hardt und Negri konstruieren ihr Theoriemodell auf der Grundlage historisch überholter Kategorien wie Klasse oder Klassenkampf. So definieren sie die »Multitude« als eine Klasse, die zu gemeinsamem Handeln fähig ist: »In einer ersten Annäherung ist die Multitude als Zusammensetzung aus all jenen zu begreifen, die unter der Herrschaft des Kapitals arbeiten, und daher potenziell als die Klasse, die der Herrschaft des Kapitals widersteht.«9 Die Gewalt, die vom Empire ausgeht, wird als Gewalt der Fremdausbeutung gedeutet: »Die Menge (Multitude) ist die wahre Produktivkraft der sozialen Welt, während das Empire ein Beuteapparat ist, der von der Lebenskraft der Menge lebt — oder, um es in Anlehnung an Marx zu sagen, ein Regime der akkumulierten toten Arbeit, das nur dadurch überlebt, dass es vampirmäßig das Blut der Lebenden saugt.« Die Rede von der Klasse ist nur innerhalb einer Pluralität von Klassen sinnvoll. Die Multitude ist aber die einzige Klasse. Zu ihr gehören alle, die an dem kapitalistischen System beteiligt sind. Das Empire ist keine herrschende Klasse, die die Multitude ausbeutet, denn heute beutet man sich selbst aus, wobei man sich in Freiheit wähnt. Das heutige Leistungssubjekt ist Täter und Opfer zugleich. Negri und Hardt kennen diese Logik der Selbstausbeutung offenbar nicht, die viel effizienter ist als die Fremdausbeutung. Im Empire herrscht eigentlich niemand. Es stellt das kapitalistische System selbst dar, das alle überspannt. So ist heute eine Ausbeutung ohne Herrschaft möglich.

Die neoliberalen Wirtschaftssubjekte bilden kein zum gemeinsamen Handeln fähiges Wir. Die zunehmende Egoisierung und Atomisierung der Gesellschaft lässt die Räume für das gemeinsame Handeln radikal schrumpfen und verhindert dadurch die Bildung einer Gegenmacht, die die kapitalistische Ordnung wirklich infrage zu stellen vermöchte. Socius weicht solus. Nicht Multitude, sondern eher Solitude kennzeichnet die heutige gesellschaftliche Verfassung. Sie ist von einem allgemeinen Zerfall des Gemeinsamen und des Gemeinschaftlichen erfasst. Die Solidarität schwindet. Die Privatisierung setzt sich bis in die Seele fort. Die Erosion des Gemeinschaftlichen macht ein gemeinsames Handeln immer unwahrscheinlicher. Von dieser gesellschaftlichen Entwicklung nehmen Hardt und Negri nicht Kenntnis und beschwören eine kommunistische Revolution der Multitude. Ihr Buch schließt mit einer romantischen Verklärung des Kommunismus: »In der Postmoderne befinden wir uns wieder in der gleichen Situation wie Franz von Assisi, und wir setzen dem Elend der Macht die Freude am Sein entgegen. Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können – weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein« (…)

Die Anfänge der digitalen Kommunikation waren insgesamt von Utopismen beherrscht. So schwebt auch Flusser eine idealisierte Anthropologie des kreativen Schwarms vor: »Ist der telematische Mensch ein Anfang einer Anthropologie, die sagt, Mensch sein ist ein telematisches Verknüpft-Sein mit anderen, ein gegenseitiges Anerkennen zwecks Abenteuer der Kreativität?« Flusser überhöht die Netzkommunikation immer wieder ins Religiöse. Die telematische Ethik der Vernetzung entspreche dem »Judenchristentum mit seiner Forderung der Nächstenliebe«. Flusser erblickt in der digitalen Kommunikation ein messianisches Potenzial, das sie dienstbar macht für das »tiefe, existenzielle Verlangen des Menschen nach Anerkennung des anderen und Selbsterkenntnis im anderen, kurz der Liebe im jüdisch-christlichen Sinne«. Demnach stiftet die digitale Kommunikation eine Art Pfingstgemeinschaft. Sie befreit den Menschen aus dem für sich isolierten Selbst und schafft einen Geist, einen Resonanzraum: »Das Netz schwingt, es ist ein Pathos, es ist eine Resonanz. Das ist die Grundlage der Telematik, diese Sympathie und Antipathie der Nähe. Ich glaube, die Telematik ist eine Technik der Nächstenliebe, eine Technik zum Ausführen des Judenchristentums. Die Telematik hat Empathie als Basis. Sie vernichtet den Humanismus zugunsten des Altruismus. Allein dass diese Möglichkeit besteht, ist schon etwas ganz Kolossales.« Die Informationsgesellschaft ist Flusser zufolge eine »Strategie« zum »Abschaffen der Ideologie von einem Selbst zugunsten der Erkenntnis, dass wir einer für den anderen da sind und keiner für sich selbst da ist«. Sie stellt eine »Abschaffung des Selbst zugunsten der intersubjektiven Verwirklichung« »automatisch« her.

Die digitale Vernetzung ist für Flusser kein Medium zwanghafter Suche nach Neuem, sondern der »Treue«, die der Welt »ein Aroma«, »einen spezifischen Duft« verleiht. Die digitale Kommunikation macht die Erfahrung einer beglückenden Nähe, den beglückenden Augenblick (kairos) möglich, indem sie jede raumzeitliche Distanz wegzaubert: »Das ist das Bild, das ich habe: Wenn ich mit meinem Freund in Sao Paulo telematisch kommuniziere, dann verbiegt sich nicht nur der Raum, und er kommt zu mir und ich zu ihm, sondern es verbiegt sich auch die Zeit, die Vergangenheit wird Zukunft, die Zukunft wird Vergangenheit, und beides wird gegenwärtig. Das ist mein Erleben der Intersubjektivität.« Dieser Messianismus der Vernetzung hat sich nicht bewahrheitet. Die digitale Kommunikation lässt die Gemeinschaft, das Wir, vielmehr stark erodieren. Sie zerstört den öffentlichen Raum und verschärft die Vereinzelung des Menschen. Nicht die »Nächstenliebe«, sondern der Narzissmus beherrscht die digitale Kommunikation. Die digitale Technik ist keine »Technik der Nächstenliebe«. Sie erweist sich vielmehr als eine narzisstische Ego-Maschine. Und sie ist kein dialogisches Medium. Das Dialogische, von dem Flussers Denken durchgehend bestimmt ist, beherrscht sein Denken über die Vernetzung zu sehr. (…)

Im Zuge des Digital Turn verlassen wir endgültig die Erde, die terrane Ordnung. Werden wir dadurch befreit von der Schwere und Unberechenbarkeit der Erde? Würde die digitale Schwerelosigkeit und Fluidität uns nicht vielmehr in eine Haltlosigkeit stürzen? Heidegger war der letzte große Verfechter der terranen Ordnung. Seine »Erde« lässt »jede nur rechnerische Zudringlichkeit in eine Zerstörung umschlagen«. Die digitale Ordnung totalisiert gerade das Rechnerische oder das Additive. Die terrane Ordnung ruht auf festem Fundament. Ihr Gesetz heißt Nomos: »Der Sterblichen und der Unsterblichen Heiligen Herrscher rufe ich an, / Den himmlischen Nomos, den Ordner der Sterne; / Des salzrauschenden Meeres / Und der Erde heiliges Siegel, / Unwandelbares und Sicheres.« Die digitale Ordnung verabschiedet den Nomos der Erde endgültig. Carl Schmitt lobt die Erde vor allem aufgrund ihrer Festigkeit, die klare Abgrenzungen und Unterscheidungen zulässt. Die terrane Ordnung besteht aus Mauern, Grenzen und Festungen. Auch der feste »Charakter«, der dem flexiblen Homo digitalis gänzlich abgeht, gehört zur terranen Ordnung. Das digitale Medium gleicht dagegen jenem »Meer«, in das sich »keine festen Linien eingraben« lassen. Es lässt »keinen Charakter in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Charakter« zu, »das von dem griechischen Wort diarassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt«.

Kategorien wie Geist, Handeln, Denken oder Wahrheit gehören in die terrane Ordnung. Sie werden durch die Kategorien der digitalen Ordnung zu ersetzen sein. An die Stelle der Handlung tritt die Operation. Dieser geht keine Entscheidung im emphatischen Sinne voraus. Das Zögern oder das Zaudern, das konstitutiv für das Handeln wäre, wird als eine operative Störung wahrgenommen. Es schadet der Effizienz. Operationen sind actomes, das heißt, atomisierte Handlungen innerhalb eines weitgehend automatischen Prozesses, denen die temporale und existenzielle Weite fehlt.

Auch das Denken im emphatischen Sinne ist keine Kategorie des Digitalen. Es weicht dem Rechnen. Die Rechenschritte weisen eine ganz andere Gangart auf als das Denken. Sie sind abgesichert gegen Überraschungen, Brüche oder Ereignisse. Auch die Wahrheit wirkt heute anachronistisch angesichts der Transparenz. Sie lebt von der Negativität der Exklusion. Mit der Wahrheit wird im gleichen Zug die Falschheit gesetzt. Eine Dezision bringt das Wahre und das Falsche gleichzeitig hervor. Auch die Dichotomie von Gut und Böse beruht auf dieser narrativen Struktur. Sie ist eine Erzählung. Im Gegensatz zur Wahrheit ist die Transparenz nicht narrativ. Sie macht zwar durchsichtig, aber sie ist nicht erhellend. Das Licht ist dagegen ein narratives Medium. Es ist gerichtet und richtend. So weist es Wege. Das Medium der Transparenz ist die lichtlose Strahlung.

(Byung-Chul Han: Im Schwarm. 2013.)



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